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1. Ohne Programm keine Studienfahrt

Reisen bildet. Abgedroschene Maxime eines überlebten Bildungsbürgertums? Marktschreierischer Slogan von Reiseveranstaltern, die gern den Indikativ statt des Konjunktivs setzen? Im Oktober war im Lifestyle-Magazin der FAZ ein Bericht über eine "Studien"-Fahrt nach Italien zu lesen. Teilnehmer suchten verzweifelt nach dem Sinn ihrer Fahrt, den sie dann in einer letzten Gemeinschaftsaktion einer Gruppe vor dem Abitur fanden. Schöne Augenblicke waren solche einer ruhigen Bootsfahrt, fern vom Reise- und Besichtigungsstress und, wie auf Fotos zu sehen, der Handstand vor dem schiefen Turm von Pisa. Stress und Hektik? Bei wem? Für Erklärungen aller Art war auf dieser Reise ein einzelner Lehrer zuständig, ein Freak, - das ist jemand, dem man für vergebliche Liebesmüh Nachsicht schuldet - ein Kunstbegeisterter, dem, wo die Energie für höfliche Aufmerksamkeit nicht aufgebracht wurde, das Desinteresse gelangweilter Gymnasialprols entgegenschlug. Schließlich musste man nachts Kondition beweisen. Den Kater konnte man ausschlafen, während man durch die Landschaft der Toskana gefahren wurde. Zu individuell beeindruckenden Begegnungen der Primaner mit Kunst und Kultur kam es nach dem Eindruck der Autoren nur durch zufällige Erleuchtung und sozusagen eigene mystische Erfahrung.

Meine Diagnose dazu: Selbsttäuschung und Etikettenschwindel. Das Etikett "Studien-" ist falsch. Schule ist von der Gesellschaft erfunden, um Lernprozesse zu organisieren. Studienfahrten unserer Schule nach Italien (dies behaupte ich für Griechenland ebenso; ich war in meiner Tätigkeit am Rats für jeweils drei Studienfahrten zu beiden Zielen verantwortlich) haben ein konkretes Programm, das durch lange Erfahrung optimiert worden ist. Dass die Begegnung mit einem Kunstwerk nur dem Unvoreingenommenen (soll heißen Unvorbereiteten) möglich sei, kann nur ein zusätzliches Moment sein (Wer sähe nicht selbst viel mehr als nur das, wovon er in einer Vorbereitung gehört hat? Selbstverständlich!). Die Gegenposition: Wer freut sich nicht darauf, endlich im Original zu sehen, worüber er viel gelesen und gehört hat, womit er sich intensiv befasst hat? Jene Ausrede der Bequemlichkeit kann jedenfalls ein Programm und eine sinnvolle Planung niemals ersetzen. - Der zweite Grundsatz, der bei der o.g. Reise sträflich vernachlässigt wurde und der auf unseren Studienfahrten immer strikt beachtet wird, ist die Beteiligung sämtlicher Teilnehmer an Vorbereitung zu Hause und Durchführung in Italien. Als ein Ergebnis dieser gemeinsamen Leistung hatte unterwegs jeder einen Reader mit den selbsterarbeiteten Beiträgen in der Hand, welcher diesmal ganz auf dem PC erstellt wurde und der Gruppe schließlich gedruckt und gebunden zur Verfügung stand. Eine verbesserte Fassung wird demnächst auf CD vorliegen. Als Information füge ich das tatsächlich gelaufene Programm hinzu, das in wenigen Punkten von der ursprünglichen Planung abweicht:

01. Tag Bielefeld - Innsbruck (Rundgang)
02. Tag Innsbruck - Siena (Dom, Rathaus, Piazza del Campo)
03. Tag Siena - Tarquinia (Ausgrabung u. Museum) - Paestum
04. Tag Paestum (Ausgrabung und Museum)
05. Tag Paestum - Pompeji (Ausgrabung) - Rom (abends Freizeit; u.a. erster Erkundungsgang bis zur Piazza del Populo und zur spanischen Treppe)
06. Tag Rom (Vatikanische Museen; Petersplatz, Petersdom, Kuppel)
07. Tag Rom (EUR: Colosseo quadrato, Museo della Civiltà Romana; Paul vor den Mauern; Cestius-Pyramide, Stadtmauern und Tore (von außen); abends Kapitolinische Museen (f.a.); Marcellus-Theater, Forum Boarium, Tiberinsel, Trastevere)
08. Tag Rom (Forum, Palatin; Kapitolinischen Museen: Marc Aurel in Original und Kopie, der sterbende Gallier etc.)
09. Tag Rom (Ara Pacis, Augustus-Mausoleum, Sonnenuhr, Marc-Aurel-Säule, Piazza di Montecitorio; S. Ignazio; Pantheon; Piazza Navona; Fontana di Trevi; Spanische Treppe; Caffe Greco
10. Tag Rom (Trajans- und Augustus-Forum, SS. Cosma e Damiano, Kolosseum, Konstantinsbogen, S. Clemente, Laterans-Basilika; Callixtus-Katakombe; Fosse Ardeatine)
11. Tag Abfahrt aus Rom - Tivoli (Villa d'Este) - Siena (Palazzo pubblico und Besteigung des Turmes über der Piazza del Campo)
12. Tag Siena - Florenz (Piazzale Michelangelo, S. Miniato, Spaziergang in die Stadt über Ponte vecchio; Dom; Baptisterium, Piazza della Signoria) - Innsbruck
13. Tag Innsbruck - Bielefeld

 

Am Ratsgymnasium lernen alle Schüler Latein als erste Fremdsprache. Nach sechs Jahren ist das Latinum erreicht. In der Sek. II orientieren sich die Ziele der Studienfahrten traditionell vorwiegend an den Sprachen. So bekamen die Primaner, die Latein belegt haben, und alle weiteren Interessierten, die es sechs Jahre gelernt haben, die Möglichkeit, die antiken Tatorte selbst in Augenschein zu nehmen. In der Vorbereitung und vor Ort wurde die griechischen und etruskischen Wurzeln der römischen Kultur, Monumente der späten Republik, der Zeit des Augustus und der frühen und späteren Kaiserzeit unter die Lupe genommen. Das Christentum von seinen Anfängen bis zur Konsolidierung unter Konstantin, das Rom der Päpste, besonders in Renaissance und Barock, Abschnitte der geschichtlichen Entwicklung Italiens waren weitere Themen. Italien und Rom haben immer eine große Rolle in der deutschen Geistesgeschichte gespielt, erinnert sei nur an das Antiken-Ideal der deutschen Klassik und die Italiensehnsucht des 19. Jahrhunderts.


2. Kunst für sich erschließen

Lernerfahrungen außerhalb der Schule haben große Bedeutung. Für das wichtigste Ziel einer Italienfahrt halte ich es, jungen Leuten unmittelbar wirkende ästhetische Erfahrungen zu ermöglichen. Ihre Alltagswahrnehmung wird in vielen Fällen von einem sintflutartigen Ansturm audiovisueller Eindrücke geprägt. Wenn eine Studienfahrt einen kleinen Beitrag dazu leisten kann, dem täglichen Schwall der Waren- und Clip-Ästhetik eine Erlebnis klassischer Kunst entgegenzusetzen, lohnt der Aufwand. Die Vorbereitung mit einem Zeitaufwand von ca. 10 Doppelstunden soll den Aufbau eines historischen, literarischen und kunst- und kulturgeschichtlichen Bezugsrahmens ermöglichen. Ein Kunstwerk als schön wahrzunehmen ist jedem möglich. Dabei gleichzeitig etwas davon zu begreifen, welche Ideen und Konzeptionen des Künstlers und seiner Zeit sich darin verdichten und woran man diese erkennen kann, in welcher Weise sich andere Sichtweisen von der eigenen unterscheiden, ist ästhetischer Genuss.


3. Ein rundes Unternehmen. Bericht & Impressionen

Da eine Studienfahrt sehr viele individuell verschiedene Eindrucke hervorruft, möchte ich Bericht und Impressionen im folgenden frei assoziieren. Mir ist klar, dass wir vieles gemeinsam gesehen haben und jeder anderes. Sol war uns gnädig. Nach einem katastrophalen Sommer (Germanien muß für Römer eine Strafversetzung gewesen sein) zwei Wochen vorwiegend schönes Wetter beim Besichtigungsprogrannm, Regen fast nur während der Busfahrten. Das tat allen gut. Eine gemischte Gruppe aus meinem Latein-LK/GK und doppelt so vielen aus dem Mathe-LK meiner Kollegin Christa Wegener-Mürbe hatte sich auf den Weg gemacht. Nach Innsbruck, einem organisatorischen Abenteuer in Siena (ich hatte in der JH ein falsches Datum gebucht, wurde zum Ausgleich von der Dame an der Rezeption in 20 Min. genau 273mal mit "Herr Lehrer" angesprochen, was mich sehr von meiner Rolle überzeugte) und einer Station bei den Etruskern ging es an Rom vorbei mit diversen Umleitungen nach Paestum, zu unserem Stammlokal Villa Rita. Die griechischen Tempel von Paestum waren für Goethe und auch für uns ein eindrucksvolles Erlebnis. Der Ceres- bzw. Athena-Tempel ist fertig restauriert und erstrahlt in neuem Glanz. Leider sind dafür, offenbar im Hinblick auf das Jahr 2000, die Basilika und der benachbarte Poseidon- bzw. Hera-Tempel in restauro (Oder ob nicht vielleicht doch hinter Gerüsten und Folien ein neues Gebäude von Karstadt entsteht?). Sonne und Strand, ein Urlaubstag. Während wir beim Abendessen saßen, Einbruch und Diebstahl im Nebenzimmer, ein häßlicher Begleitumstand im Mezzogiorno. Zum Glück blieb es bei einem Sachschaden. Doch Aufregung gab es auch so reichlich, bei dem Geschädigten, der Gruppe, den Lehrern und dem Hotelbesitzer.

Weiter nach Pompeji! Pompeji - eine Ganztagsrallye. Wir durchmaßen die Stadt kreuz und quer, geführt von zwei erfahrenen Fährtensuchern, fanden alles, verloren keinen. Hier noch mehr als in Paestum, wo im weitläufigen Gelände von den Wohnhäusern nur Grundmauern erhalten sind, hier in Pompeji der authentische Eindruck einer ganzen Stadt, mit allen Freizeitangeboten für den damaligen Einwohner oder Besucher... Nachmittags weiter nach Rom. Bei einigen Entschlossenen reichte die Energie noch für einen Gang zur spanischen Treppe. Rom zeigte sich uns von seiner besten Seite, wir erwischten ein Hotel mit nahem Busparkplatz und hatten damit eine optimale Ausgangsposition. Der Dachgarten entpuppte sich als Fitnessstudio für Gruppendynamik.

Rom ist anstrengend. Auch wenn man wie ich nicht zum ersten Mal dort ist, wird man immer noch von der Fülle der Eindrücke in dieser Stadt voll in Anspruch genommen. Erst recht beim ersten Mal! Durch sinnvolle räumliche und thematische Staffelung aus der Fülle eine Struktur gewinnen, die nicht zur Überfülle ausartet. Leichter gesagt als getan! Jungen Leuten muß man auch etwas zutrauen und zumuten dürfen. Manches war auch am Rande der Zumutung, etwa die drangvolle Enge in den Vatikanischen Museen, die man dennoch nicht umgehen kann. Einsamkeit im Bracchio Nuovo bei den antiken Statuen (Augustus von Primaporta, wo warst du?). Lebhafter Betrieb, aber doch noch Möglichkeit zu sprechen, zu sehen und anzufassen: im Belvedere-Hof bei Laokoon, dem Apoll und dem Torso. Fegefeuer in den Stanzen des Raffael. Höllenqualen in der restaurierten Sixtina, wo die Verdammten sich immer weiter schieben. Eine böse Überraschung im Petersdom: Die Pietà des Michelangelo, die eh schon hinter Panzerglas steht, war auch noch weiträumig abgesperrt, so dass man zur Betrachtung eine Opernglas gebraucht hätte. Jungs, das nächste Mal zieht ihr lange Hosen an, dann dürft ihr sie auch sehen! Entschädigung für alles: der Blick von oben in den Petersdom (Man kommt sich vor wie die berühmte Taube!) und draußen von der Kuppel bei strahlendem Sonnenschein auf die Stadt.

Ein ähnlich schöner Eindruck: Blick auf den abendlich beleuchteten Kapitolsplatz, den Stern mit dem leider nicht so echt wirkenden, geklonten Marc Aurel, dann der Spaziergang am Marcellustheater vorbei zum Forum Boarium, am Tiber entlang und schließlich über die Tiberinsel nach Trastevere Richtung Ivo. Ivo hatte zu, aber sein Nachbar geöffnet. Man konnte draußen sitzen und tat's gern. Noch zwei Impressionen! Für mich immer wieder überwältigend ist das Pantheon mit seinen vollendeten Proportionen. Mein Wunsch: einmal allein darin zu stehen. Alle wissen übrigens, was das Pantheon wert ist, besonders die Wirte ringsherum an der Piazza della Rotonda, wo man für den Kaffe draußen am Tisch nicht unter 10€ bezahlt. Nur ein einziger Plebejer nutzt die Lage nicht, um Kasse zu machen. Dort sitzt man direkt gegenüber dem Eingang des Pantheons zum ganz normalen Preis - bei MacDonalds.

Ein Eindruck anderer Art, zugleich ein Einbruch, nämlich der euphorischen Stimmung einer Fahrt, war der Besuch der Fosse Ardeatine. Nach einem Gang entlang an den Zeugnissen der frühen Christenheit von den Martyrerärzten Cosmas und Damian über das Kolosseum, wo maßlos Blut geflossen ist, zum Knotenpunkt von Antike, Mittelalter und Renaissance, S. Clemente, zum Lateran, der Machtzentrale der Päpste, von dort mit dem Bus zur Callixtus-Katakombe an der Via Appia. Gleich in der Nachbarschaft befinden sich die Fosse Ardeatine, auch ein Ort des Martyriums, ein Höhlensystem, wo nach einem Anschlag auf eine deutsche Truppe über 300 italienische Zivilisten von der SS massakriert wurden. Der Gang durch die Stollen ist bedrückend, mehr noch der durch die Krypta mit den über 300 Sarkophagen. Name, Alter, Beruf, Paßbild, darunter viele Jugendliche im gleichen Alter wie unsere Primaner und sogar Jüngere. Mein Eindruck: Für eine eigene Auseinandersetzung mit der Geschichte sind Tatorte wirkungsvoller als künstlerisch gestaltete Denkmäler.

An einem kühlen Morgen gelangten wir an Marmorbrüchen vorbei nach Tivoli. Wir besuchen die Villa d'Este. Der Park ist schöner, wenn es richtig warm ist. So kommt keine rechte Stimmung bei mir auf. Weiter nach Siena. Sonnenschein am Nachmittag. Und: für mich eine Premiere. Wir besteigen den Rathausturm über dem schönsten aller Plätze, die ich gesehen habe. Auf der Piazza wird Sand aufgeschüttet, offenbar für ein Ritterspiel, das spät am Abend noch stattfinden soll. Der Blick auf die Piazza, auf die Stadt und hinunter auf die Hügel der Toskana ist atemberaubend. Blick und Stimmung möchte man festhalten, eine Spiegelreflex mit allen Objektiven incl. Fisheye ausprobieren. Was hält mich davon ab zu fliegen?

An den Abenden Gespräche in der Gruppe. Was hat am besten gefallen? Vieles wird genannt. Viele starke Eindrücke. Etliche stellen fest: "Dies hatte ich mir ganz anders vorgestellt." Und immer wieder: "Da hätte ich gerne mehr Zeit gehabt." Diese Erfahrung haben wohl alle gemacht. Das denke ich jedes Mal in Italien und fahre wieder hin. Sicher noch andere. Vorletzte Station: Florenz. Eine Stadt, kleiner, schöner, gepflegter als Rom und doch nicht vergleichbar. Nirgends wird mir so wie hier die Knappheit der Zeit zum Ärger. Auch hierher will ich zurück, um mit mehr Muße mehr anzuschauen. Weiter nach Innsbruck. Ich ziehe einen Pulli übers Polohemd.

Dr. Nobert Gertz